Steht Syrien vor der nächsten Diktatur, Kristin Helberg?
Shownotes
Seit 1979 hatte die diktatorische Assad-Familie Syrien fest in der Hand. Die Revolution von 2011, die in einen brutalen Krieg Baschar al-Assads gegen oppositionelle Gruppen und seine eigene Bevölkerung mündete, galt als endgültig gescheitert. Im Dezember 2024 passierte dann etwas, mit dem eigentlich niemand gerechnet hatte: Die islamistische HTS und verbündete Gruppen stürzten die Regierung Baschar al-Assads in nur elf Tagen, und ihr Anführer Ahmed al-Scharaa übernahm die Macht.
Wie hat sich das Land seit dem Sturz verändert? Wer ist Ahmed al-Scharaa, und hat er seine Versprechen von Demokratieaufbau und Teilhabe der Minderheiten eingehalten – oder steht das Land gerade vor der nächsten Diktatur? Und welche politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen die Türkei, die USA und Deutschland in Syrien?
In der siebten Folge unseres Podcasts «Weltunordnung» spricht Pauline Jäckels mit Kristin Helberg, freie Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie lebte sieben Jahre in Syrien, berichtete für deutschsprachige Medien und veröffentlichte drei Bücher und zahlreiche Artikel zum Syrien-Krieg.
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Transkript anzeigen
Pauline Jäckels: Weltunordnung. Der internationale Politik-Podcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Pauline Jäckels: Seit Ende der 70er hatte die diktatorische Assad-Familie Syrien fest in der Hand.
Pauline Jäckels: Die Revolution von 2011, die in einem brutalen Krieg Bashar al-Assads gegen
Pauline Jäckels: oppositionelle Gruppen und seine eigene Bevölkerung mündete,
Pauline Jäckels: galt eigentlich als endgültig gescheitert.
Pauline Jäckels: Im Dezember 2024 passierte dann etwas, mit dem niemand gerechnet hatte.
Pauline Jäckels: Die islamistische HTS und verbündete Gruppen stürzten die Regierung Bashar al-Assad
Pauline Jäckels: nur elf Tagen und ihr Anführer Ahmed El-Chada übernahm die Macht.
Pauline Jäckels: Wie hat sich das Land seit dem Sturz verändert? Wer ist Ahmed El-Chada und hat
Pauline Jäckels: er seine Versprechen von Demokratieaufbau und Teilhabe der Minderheiten eingehalten
Pauline Jäckels: oder schlittert das Land gerade in die nächste Diktatur?
Pauline Jäckels: Und welche politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen Länder wie
Pauline Jäckels: die Türkei, die USA und Deutschland in Syrien?
Pauline Jäckels: Mein Name ist Pauline Jekylls. Ich bin freie Journalistin und Taz-Redakteurin.
Pauline Jäckels: Und über all diese Fragen spreche ich in dieser Folge mit Christine Hellberg.
Pauline Jäckels: Christine ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Von 2001 bis 2008 berichtete
Pauline Jäckels: sie von Syrien aus über die arabische und islamische Welt.
Pauline Jäckels: Heute lebt Christine in Berlin und arbeitet als freie Journalistin zu den Themen
Pauline Jäckels: Syrien, Israel, Palästina und die deutsche Nahostpolitik.
Pauline Jäckels: Wenn ihr in Berlin lebt, kennt ihr sie vielleicht auch von ihrem Panelformat
Pauline Jäckels: Zeit zu reden, mit dem sie seit etwa einem Jahr inzwischen jeden Monat die Spore in Neukölln füllt.
Pauline Jäckels: Mit dem Format hat sie einen extrem wertvollen Raum für eine offene,
Pauline Jäckels: wenn auch an vielen Stellen immer wieder schwierige Diskussionen zu Israel,
Pauline Jäckels: Palästina, Deutschland und die Staatsräson geschaffen.
Pauline Jäckels: Ihr Leib- und Magenthema ist aber eigentlich Syrien.
Pauline Jäckels: Hallo Christine, schön, dass du da bist.
Kristin Helberg: Hallo Pauline, danke für die Einladung.
Pauline Jäckels: Gerade fanden in Syrien ja zum ersten Mal seit dem Sturz Bashar al-Assads und
Pauline Jäckels: der Machtübernahme durch den Präsidenten Ahmad al-Shara Parlamentswahlen statt.
Pauline Jäckels: Bevor wir aber darüber sprechen und die Kritik an diesen Wahlen,
Pauline Jäckels: lasst uns zuerst nochmal darüber reden, wie wir überhaupt zu diesem Punkt gekommen sind.
Pauline Jäckels: Weil noch vor einem Jahr hatte kaum jemand geglaubt, dass das diktatorische
Pauline Jäckels: Assad-Regime in absehbarer Zeit fallen würde.
Pauline Jäckels: Und im Dezember 2024 hat dann eine Allianz aus verschiedenen bewaffneten Gruppen
Pauline Jäckels: in wenigen Tagen im Prinzip das Assad-Regime gestürzt.
Pauline Jäckels: Vielleicht können wir einmal darüber sprechen, wer waren hier die relevanten
Pauline Jäckels: beteiligten Akteure und wie war dieser Vormarsch möglich, weil die Assad-Familie
Pauline Jäckels: ja eigentlich, so glaubte man zumindest, das Land in zwei Generationen fest in der Hand hatte.
Kristin Helberg: Es hat tatsächlich niemand damit gerechnet, dass dieses Regime innerhalb von
Kristin Helberg: elf Tagen in sich zusammenbrechen würde.
Kristin Helberg: Es war also weniger ein gewaltsamer Sturz durch diese verschiedenen Gruppen,
Kristin Helberg: sondern eigentlich eine Selbstauflösung.
Kristin Helberg: Und nur das erklärt, warum es auch so relativ unblutig und so schnell vonstatten gegangen ist.
Kristin Helberg: Und ich glaube, das entscheidende Momentum war, dass HTS, Hayat Tahrir-e-Sham,
Kristin Helberg: also diese islamistische Gruppe aus Idlib, dass ihr es gelungen war,
Kristin Helberg: innerhalb von wenigen Tagen Aleppo zu übernehmen.
Kristin Helberg: Und das war ein Signal, das das ganze Land ausgestrahlt hat,
Kristin Helberg: sodass dann im Süden des Landes, im Südosten des Landes, verschiedene andere
Kristin Helberg: Gruppen, auch im Nordosten, also verschiedene bewaffnete Gruppen gesehen haben, wow,
Kristin Helberg: dieses Regime ist ersetzbar und wir marschieren jetzt geeint,
Kristin Helberg: wir versuchen tatsächlich in Damaskus Assad zu stürzen.
Kristin Helberg: Und dann ist im Grunde in den Folgetagen Ort für Ort, Stadt für Stadt gefallen
Kristin Helberg: dadurch, dass Soldaten dieses Regimes ihre Uniform ausgezogen haben,
Kristin Helberg: nach Hause gegangen sind, nichts mehr damit zu tun haben wollten,
Kristin Helberg: Parteizentralen übergeben wurden, verlassen wurden, Geheimdienstzentralen einfach geräumt wurden.
Kristin Helberg: Das heißt, die Vertreter, diese offiziellen Vertreter des Assad-Regimes haben
Kristin Helberg: einfach aufgegeben, weil sie gar keinen Grund mehr gesehen haben,
Kristin Helberg: für Assad zu kämpfen und in irgendeiner Weise dieses Regime zu erhalten.
Pauline Jäckels: Und warum haben sie den Grund nicht mehr gesehen?
Kristin Helberg: Weil dieses Regime seit vielen Jahren nur damit beschäftigt war,
Kristin Helberg: selbst an der Macht zu bleiben, sich zu bereichern. Denn Assad hatte sowohl
Kristin Helberg: wirtschaftlich als auch militärisch war dieses ganze System darauf ausgerichtet,
Kristin Helberg: ihn an der Macht zu halten auf Kosten der Menschen.
Kristin Helberg: Also selbst im Militär, die Soldaten hatten ja ganz geringen Sold,
Kristin Helberg: die hatten kaum mehr was zu essen.
Kristin Helberg: Er hat sich überhaupt nicht gekümmert um den Zustand der Menschen.
Kristin Helberg: Er hat sich bereichert mit humanitärer Hilfe, die über die Vereinten Nationen ins Land gekommen war.
Kristin Helberg: Er hat den Kaptagonenhandel, den Drogenschmuggel ausgebaut, hat davon profitiert
Kristin Helberg: indirekt und hat im Grunde die Syrerinnen und Syrer ausgequetscht.
Kristin Helberg: Also wer auch immer Geld hatte, auch Unternehmer, wurden mit Steuern,
Kristin Helberg: mit Abgaben irgendwie ausgequetscht.
Kristin Helberg: Jeder, der eine Information wollte über einen Angehörigen in einem Gefängnis,
Kristin Helberg: musste Geld dafür bezahlen.
Kristin Helberg: Das heißt, ein hochkorruptes, mafiöses System, das niemandem gedient hat.
Kristin Helberg: Also am Ende waren ja auch die Alawiten selbst, denen immer erzählt wurde,
Kristin Helberg: sie würden davon irgendwie profitieren, waren da auch nicht mehr davon überzeugt.
Kristin Helberg: Sie hatten ihre Söhne geopfert für den Machterhalt Assads und lebten verarmt
Kristin Helberg: und ohne Aussicht auf Zukunft und einfach in ganz schlechten Situationen,
Kristin Helberg: auch selbst in den Kerngebieten im Hinterland der Küste.
Kristin Helberg: Und das erklärt, dass eben keiner sich dafür einsetzen wollte,
Kristin Helberg: dass Assad da noch weiter an der Macht bleibt.
Kristin Helberg: Es gab einen Moment, in dem Wladimir Putin, der russische Präsident,
Kristin Helberg: Hauptunterstützer des Assad-Regimes, noch bereit war, glaube ich,
Kristin Helberg: sich da zu engagieren und jetzt mit Truppen und Luftangriffen das irgendwie zurückzuschlagen.
Kristin Helberg: Aber auch die Russen vor Ort haben gesehen, es gibt keine Bereitschaft unter den Syrern.
Kristin Helberg: Das ist so gering. Denn der Kreis, der wirklich was zu verlieren hat oder der
Kristin Helberg: wirklich noch von dieser Macht profitiert, ist so klein.
Kristin Helberg: Wie sollen wir ein Regime retten, dessen Anhänger, vermeintliche Anhänger,
Kristin Helberg: gar nicht mehr bereit waren, noch selbst dafür zu kämpfen?
Kristin Helberg: Und deswegen ist dieses Regime nach 54 Jahren einfach in sich zusammengefallen
Kristin Helberg: und hat sich innerhalb von elf Tagen aufgelöst.
Pauline Jäckels: Ich habe mich in der Vorbereitung nochmal daran erinnert, dass du in den Wochen
Pauline Jäckels: nach dem Sturz sagtest, Al-Shara und seine Verbündeten hätten quasi die syrische
Pauline Jäckels: Revolution von 2011 vollendet.
Pauline Jäckels: Kannst du kurz erklären, was du damit meintest und ob du das heute immer noch so siehst?
Kristin Helberg: Wenn man den Satz heute hört, wird man es natürlich irgendwie für naiv halten.
Kristin Helberg: Mir ging es darum, damals um einen wichtigen Punkt, mir ging es darum zu betonen,
Kristin Helberg: dass es die Syrerinnen und Syrer waren,
Kristin Helberg: die 2011 sich mal erhoben haben gegen dieses Regime und dass es am Ende auch
Kristin Helberg: Syrer und Syrerinnen waren, die zum Zusammenbruch des Regimes beigetragen haben.
Kristin Helberg: Das bedeutet nicht, dass die Vision von damals, also die Vision der zivilgesellschaftlichen
Kristin Helberg: Gruppen oder auch der konservativen Menschen auf der Straße,
Kristin Helberg: die ja vor allem für ein Leben in Würde, für Gerechtigkeit, für Freiheit auf
Kristin Helberg: die Straße gegangen sind, dass
Kristin Helberg: die jetzt mit diesen neuen Machthabern sich irgendwie erfüllen würden.
Kristin Helberg: Aber es ist eine syrische Angelegenheit, darum ging es mir.
Kristin Helberg: Es hat also nicht das Ausland gebraucht, direkt um da jetzt ein Regime zu stürzen,
Kristin Helberg: sondern in gewisser Weise ist eben der grundsätzliche Aufstand gegen Diktatur
Kristin Helberg: ist jetzt eben erstmal vollendet worden durch HTS und andere Gruppen damals.
Kristin Helberg: Und jetzt stellt sich die Frage, ob daraus eben irgendetwas Besseres wird,
Kristin Helberg: ob da eine neue Form von Diktatur daraus erwächst, das wissen wir nicht,
Kristin Helberg: aber in dem Moment war es schon die Vollendung eines Aufstands,
Kristin Helberg: der 2011 begonnen hat, aus eigener Kraft, aus syrischer Kraft.
Pauline Jäckels: Sprechen wir vielleicht kurz einmal über Al-Shara. Vielleicht müssen wir hier
Pauline Jäckels: an dieser Stelle ein kleines bisschen seine Geschichte nochmal auftröseln. Wer ist Al-Shara?
Kristin Helberg: Also Ahmed Al-Shara stammt aus Damaskus. Er ist in dem Stadtteil Messe,
Kristin Helberg: das ist ein sehr bürgerlicher Stadtteil von Damaskus, ist er aufgewachsen.
Kristin Helberg: Sein Vater war Wirtschaftswissenschaftler und er hat im Erdölbereich gearbeitet,
Kristin Helberg: in Saudi-Arabien, weswegen Ahmed Al-Shara in seiner frühen Kindheit und Jugend
Kristin Helberg: auch in Saudi-Arabien mit aufgewachsen ist.
Kristin Helberg: Sein Vater war Nasserist, also Pan-Arabist, ideologisch betrachtet.
Kristin Helberg: Seine Mutter ist Lehrerin gewesen und Pan-Arabist sind Leute,
Kristin Helberg: die die Vision hatten, dass alle Araber sich vereinen müssten und eigentlich
Kristin Helberg: ein großes geeintes Gebiet im Nahen Osten begründen müssten,
Kristin Helberg: um dort eben gemeinsam ihre Interessen durchzusetzen.
Kristin Helberg: Das war eine Antwort auch auf Kolonialismus natürlich damals,
Kristin Helberg: dass man gesagt hat, okay, wir müssen uns einen, wir sind hier ein Kulturkreis,
Kristin Helberg: sprechen die gleiche Sprache,
Kristin Helberg: deswegen lasst uns doch aufgrund unserer arabischen Identität eine Einheit bilden,
Kristin Helberg: also dieser Pan-Arabismus und dann in der Form auch nochmal das Nasserismus.
Kristin Helberg: Also inspiriert von Jamal Abdel Nasser, von dem ägyptischen Präsidenten damals.
Kristin Helberg: Also das ist insofern wichtig, weil Ahmad al-Shadda eigentlich drei wichtige
Kristin Helberg: Ideologien in seiner Person vereint.
Kristin Helberg: Was ich ganz interessant finde, weil wir ihn ja häufig reduzieren jetzt auf
Kristin Helberg: seine dschihadistische Vergangenheit.
Kristin Helberg: Also er ist aufgewachsen dann in diesem bürgerlichen Stadtteil Messe,
Kristin Helberg: wo eigentlich auch so eine gehobene Mittelschicht durchaus lebt,
Kristin Helberg: in seiner Nachbarschaft leben zum Beispiel Christen, er hat mit christlichen
Kristin Helberg: Kindern, ist er irgendwie groß geworden in der Nachbarschaft und er war dann
Kristin Helberg: mit der Schule fertig, das waren die 2000er Jahre.
Kristin Helberg: Und da kam, fand der Irak-Krieg statt, nebenan diese Intervention der US-Amerikaner.
Kristin Helberg: Und das hat damals sehr viele Leute politisiert, sehr viele junge Menschen,
Kristin Helberg: vor allem junge Männer politisiert.
Kristin Helberg: Parallel dazu die zweite Intifada in Palästina.
Kristin Helberg: Also auch dort irgendwie der Frust gegen einen übermächtigen Feind,
Kristin Helberg: damals Israel, eben unterstützt von den USA.
Kristin Helberg: Das ist die Zeit, in der ich in Damaskus gelebt habe. Deswegen erinnere ich
Kristin Helberg: mich noch gut, weil damals wirklich die Busse losgefahren sind vor der irakischen
Kristin Helberg: Botschaft, die übrigens gegenüber von der amerikanischen Botschaft liegt in Damascus.
Kristin Helberg: Das war wirklich ziemlich spannend.
Kristin Helberg: Dann sind die immer in den frühen Morgenstunden nachts, haben sich Männer dort
Kristin Helberg: gemeldet und freiwillig wurden die dann mit Bussen in den Irak gebracht,
Kristin Helberg: um dort die Amerikaner zu bekämpfen.
Kristin Helberg: Und Achmed Aschada muss damals einer von diesen Jungs gewesen sein,
Kristin Helberg: weil das hat ihn eigentlich, wir würden sagen radikalisiert.
Kristin Helberg: Also die Idee war jetzt den Feind, die Amerikaner, die so wahrgenommen wurden,
Kristin Helberg: jetzt zu bekämpfen im Irak nebenan, weil da waren sie ja erreichbar.
Kristin Helberg: Und das verbunden mit einem Islamismus, weil man sich ja dann im Irak auch Al-Qaida angeschlossen hat.
Kristin Helberg: Also Al-Qaida wurde ja dadurch eigentlich erst groß durch diesen Sturz des Regimes
Kristin Helberg: von Saddam Hussein durch die USA.
Kristin Helberg: Und dort hat er sich dann schnell diesem Islamismus angeschlossen,
Kristin Helberg: dieser Vision und wurde auch kurz danach schon gefangen genommen durch die US-Truppen,
Kristin Helberg: war dann fünf Jahre in verschiedenen US-Gefängnissen.
Kristin Helberg: Hat dort Abu Bakr al-Baghdadi getroffen, den späteren Begründer des sogenannten
Kristin Helberg: IS, islamischen Staates, und hat im Grunde im Gefängnis dann die Kontakte geknüpft,
Kristin Helberg: die er auch später dann weiterverfolgt hat.
Kristin Helberg: Er hat allerdings, nie war er Teil des IS, sondern er war eben Teil von Al-Qaeda im Irak.
Kristin Helberg: Daraus hat sich der IS entwickelt, aber er hat sich frühzeitig eigentlich abgegrenzt
Kristin Helberg: von dieser dschihadistischen Vision.
Kristin Helberg: Also dschihadistisch im Sinne von, das ist ein globales Projekt und wir wollen
Kristin Helberg: eigentlich die Welt zu einem Kalifatstaat machen und da gibt es eine Strategie
Kristin Helberg: und das geht gegen Ungläubige überall.
Kristin Helberg: Er hat sich dann sehr schnell wieder besonnen auf das Ziel, dieses syrische
Kristin Helberg: Regime zu stürzen. Also der Frust über das eigene, die Diktatur zu Hause war
Kristin Helberg: eigentlich sein Antrieb.
Kristin Helberg: Dann kam die Revolution in Syrien in Gang. Er ist dann 2013 nach Syrien gegangen
Kristin Helberg: wieder mit dem offiziellen Ableger von Al-Qaida,
Kristin Helberg: nämlich der Nusra-Front, die er dort mit aufgebaut hat, mit einigen wenigen
Kristin Helberg: Leuten und hat sich dann eben sehr schnell erst von dem IS, also Abu Bakr Baraday,
Kristin Helberg: die gelöst hat, gesagt, das ist gar nicht seine Vision,
Kristin Helberg: ihm geht es gar nicht um globalen Dschihad, sondern ihm geht es darum,
Kristin Helberg: dieses Regime zu stürzen mit islamistischen Zielen.
Kristin Helberg: Und er hat dann auch, wenig später, sich von Al-Qaida losgesagt und gesagt,
Kristin Helberg: also er distanziert sich jetzt mal von diesen internationalen Netzwerken,
Kristin Helberg: weil er möchte sich eigentlich darauf konzentrieren, das Assad-Regime zu stürzen.
Kristin Helberg: Das heißt, die Nusra-Front ist dann in den Folgejahren das mächtigste Rebellen-
Kristin Helberg: oder aufständischen Bündnis geworden, islamistisch motiviert.
Kristin Helberg: Er hat dann im Nordwesten, also in der Provinz Idlib, viele andere Milizen unter
Kristin Helberg: seine Kontrolle gebracht, kooptiert, unterdrückt zum Teil mit verschiedenen Methoden.
Kristin Helberg: Und dann hat er in Idlib eben auch eine Regierung gebaut und da haben die dann
Kristin Helberg: in gewisser Weise geübt, Gebiete zu verwalten und zu regieren,
Kristin Helberg: bevor man das dann jetzt eben übertragen musste auf Damaskus sehr schnell.
Pauline Jäckels: Vielleicht auch wichtig, warum es doch auch einige Oppositionelle gab,
Pauline Jäckels: die Al-Jahra sehr negativ gesehen haben, weil die Al-Nusra-Fonds natürlich nicht
Pauline Jäckels: nur gegen das Assad-Regime vorgegangen ist, sondern teilweise auch gegen andere
Pauline Jäckels: oppositionelle Gruppen,
Pauline Jäckels: auch in Idlib und dort Massaker begangen hat.
Kristin Helberg: Genau, also Missbrauch, auch vor Angefangenen natürlich, Misshandlungen,
Kristin Helberg: Menschenrechtsverletzungen in Idlib, das zum einen.
Kristin Helberg: Und natürlich die Zivilgesellschaft, die auch sehr unter Druck geraten ist durch
Kristin Helberg: verschiedene islamistische Milizen und eben auch durch die Nusra-Front.
Kristin Helberg: Also das waren schon aus Sicht der Zivilgesellschaft der zweite Feind.
Kristin Helberg: Also man hat einerseits wurde Assad bombardiert die ganze Zeit von Russland
Kristin Helberg: und dann eben am Boden auch noch unter Druck und unter ständiger Kontrolle und
Kristin Helberg: Bevormundung und eben auch Verfolgung dieser islamistischen Machthaber.
Kristin Helberg: Deswegen auch natürlich diese Kritik. Das hat sich allerdings in den letzten
Kristin Helberg: Jahren auch etwas verändert.
Kristin Helberg: Also wenn man mit Aktivisten spricht in Idlib, dann sagen die,
Kristin Helberg: da gibt es schon eine Entwicklung ab 2018, 2019 ist das anders gelaufen.
Kristin Helberg: Da gab es ein anderes Verständnis auch. Man hatte mehr Möglichkeiten,
Kristin Helberg: da auch nochmal wieder weiter zu arbeiten.
Kristin Helberg: Aber es war auf jeden Fall, war das natürlich schon immer unter Druck und auch unter Verfolgung.
Kristin Helberg: Das Interessante ist, dass die Menschen in Idlib.
Kristin Helberg: Ein sehr viel größeres politisches Bewusstsein haben, als jetzt zum Beispiel Leute in Damaskus.
Kristin Helberg: Also ich war im April im Land und bin auch durch verschiedene Landesteile gereist.
Kristin Helberg: Und wir haben dann Leute in Idlib erzählt.
Kristin Helberg: Also als Ahmedeshadar dann auf einmal in Damaskus an der Macht war,
Kristin Helberg: dann haben diese Leute in Damaskus angefangen, sein Foto zu drucken und überall
Kristin Helberg: aufzuhängen, so Plakate von ihm aufzuhängen.
Kristin Helberg: Und die in Idlib haben gesagt, was macht ihr da für ein Mist,
Kristin Helberg: so ein Quatsch. Wir haben doch gerade noch gegen ihn demonstriert.
Kristin Helberg: Wir wollten ihn gerade in Idlib stürzen. Wie kommt ihr dazu,
Kristin Helberg: auf einmal sein Porträt aufzuhängen?
Kristin Helberg: Und das zeigt natürlich, dass Menschen wie in Damaskus, die wirklich 54 Jahre
Kristin Helberg: kontinuierlich in einer Diktatur gelebt haben, die es gar nicht anders kennen,
Kristin Helberg: als dass wenn dann ein neuer Präsident sich sofort nicht loyal erklären muss
Kristin Helberg: und am besten sofort ein großes Foto aufhänge, um in Sicherheit zu sein,
Kristin Helberg: dass diese Leute natürlich viel weniger ein kritisches Bewusstsein und ein politisches
Kristin Helberg: Denken haben, als jetzt Leute in Idlib oder auch in anderen Landesteilen,
Kristin Helberg: die viele Jahre lang auch unter oppositioneller Kontrolle waren,
Kristin Helberg: also nicht Assad-Kontrolle in dem Fall. weil die eben.
Kristin Helberg: Schon mehr Freiheit erlebt haben und auch diese neuen Machthaber immer mal in Frage gestellt haben.
Kristin Helberg: Es gab Demonstrationen in Idlib, man konnte da nicht super frei demonstrieren, aber es war möglich.
Kristin Helberg: Man hat Kritik geäußert, die wurde auch zum Teil angenommen und umgesetzt.
Kristin Helberg: Das war jetzt, wie gesagt, auch hier nicht irgendwie besonders demokratisch
Kristin Helberg: und vorbildlich, aber es war deutlich anders als in Damaskus unter dem Assad-Regime.
Kristin Helberg: Vielleicht noch ein abschließender Satz zu Ahmed de Chada. Die drei Ideologien,
Kristin Helberg: die er in sich trägt, sind die bezeichnenden und prägenden Ideologien für alle Menschen in Syrien.
Kristin Helberg: Nämlich der Panarabismus, der Islamismus und der Nationalismus.
Kristin Helberg: Weil er am Ende ja ein nationaler Führer war, der jetzt irgendwie dieses Land
Kristin Helberg: befreit hat. Und dieser Fokus auf den Sturz des Regimes ist eben dieses nationale
Kristin Helberg: Element in seinem Denken.
Kristin Helberg: Und damit ist er ein sehr typischer Vertreter für das, was die Mehrheit der Syrer auch so sehen.
Kristin Helberg: Und das ist einerseits wichtig zu verstehen, andererseits sind das genau die
Kristin Helberg: Ideologien, die natürlich eine Entwicklung hin zu Demokratie,
Kristin Helberg: Pluralismus behindern.
Kristin Helberg: Sowohl der Pan-Arabismus als auch der Nationalismus als auch der Islamismus
Kristin Helberg: sind keine Konzepte, aus denen jetzt wirklich Mitbestimmung,
Kristin Helberg: Pluralismus und Freiheit erwachsen.
Kristin Helberg: Aber er trägt die alle drei in sich. Also er ist nicht einfach nur so ein Dschihadist und Geläuterter,
Kristin Helberg: sondern er hat eben schon ein tieferes Verständnis auch von Syrien und repräsentiert
Kristin Helberg: typischerweise eigentlich so das sunnitische neoliberale, vielleicht auch Bürgertum in Damaskus.
Kristin Helberg: Und in dieser Wahrnehmung ist er durchaus sehr repräsentativ,
Kristin Helberg: auch für viele Menschen in dem Leben.
Pauline Jäckels: Dann lass uns vielleicht direkt mal über die geopolitischen Interessen sprechen,
Pauline Jäckels: die ja dann doch eine große Rolle gespielt haben.
Pauline Jäckels: Also insbesondere auch die Rolle der Türkei.
Pauline Jäckels: Die Türkei hat ja die HTS unterstützt, hat sich auch an der Offensive teilweise beteiligt.
Pauline Jäckels: Kannst du einmal erklären, was war die Rolle der Türkei und ihrer Miliz in dieser
Pauline Jäckels: Sache und welches Interesse verfolgt die Türkei damit, beziehungsweise Erdogan?
Kristin Helberg: Also die Türkei hat ja eigene Milizen in Nordsyrien gehabt, nicht HTS,
Kristin Helberg: sondern die syrische Nationale Armee.
Kristin Helberg: Das waren also Söldnertruppen von Erdogan, die jetzt offiziell integriert wurden
Kristin Helberg: in die neuen nationalen Sicherheitskräfte.
Kristin Helberg: Aber die Türkei war natürlich als Lieferant oder als Durchgangsraum eben auch
Kristin Helberg: für Waffenlieferungen ganz wichtig.
Kristin Helberg: Also auch die HTS-Truppen in Idlib haben profitiert von türkischen Waffenlieferungen.
Kristin Helberg: Also es waren da auch Drohnen im Einsatz, also schon auch eine moderne Technik,
Kristin Helberg: die diesen Vormarsch auf Aleppo vor allem ermöglicht hat.
Kristin Helberg: Die Türkei hat grundsätzlich natürlich ein Interesse daran, dass jede neue Führung
Kristin Helberg: in Damaskus erstens mal ihr Wohl gesonnen ist.
Kristin Helberg: Deswegen sitzen da jetzt offiziell auch Verbündete und sie hat ein Interesse
Kristin Helberg: daran, dass es konservative Muslime sind, Sunniten, islamistisch ist. Auch das gefällt ihr.
Kristin Helberg: Und sie hat das größte Interesse daran, dass das Autonomiegebiet,
Kristin Helberg: die autonome Verwaltung Nord- und Ostsyrien, die ja vor allem von Kurden dominiert
Kristin Helberg: wird, von der kurdischen PID,
Kristin Helberg: Partei der Demokratischen Union, also Schwesterpartei mal ursprünglich der PKK,
Kristin Helberg: dass dieses Gebiet auf jeden Fall integriert wird in einen neuen Staat und nicht
Kristin Helberg: als Autonomie irgendwie erhalten bleibt.
Kristin Helberg: Weil das könnte ja auch abstrahlen und attraktiv sein für Kurden und Kurdinnen
Kristin Helberg: im eigenen Land in der Türkei.
Kristin Helberg: Das sind so die Interessen Erdogans. Die haben sich ja auch größtenteils erfüllt schon.
Kristin Helberg: Also die Türkei ist ein großer Gewinner dieses Machtwechsels.
Kristin Helberg: Und sie hat es eben indirekt durchaus ermöglicht durch die Waffenlieferungen.
Kristin Helberg: Und die eigenen Milizen, diese SNA-Milizen, haben damals den Moment des Vormarschs
Kristin Helberg: eigentlich genutzt, um erstmal Richtung Osten zu marschieren.
Kristin Helberg: Also in Richtung der kurdischen Kräfte, der syrischen demokratischen Kräfte, der SDF.
Kristin Helberg: Das sind überwiegend kurdisch dominierte Streitkräfte.
Kristin Helberg: Das ist das zweite große Militärbündnis im Grunde innerhalb des Landes.
Kristin Helberg: Auch jetzt noch bewaffnete Einheiten, die nicht unter dem zentralen Kommando in Damaskus stehen.
Kristin Helberg: Und diese SDF und die türkischen Söldnertruppen der SNA haben sich viele Jahre
Kristin Helberg: schon bekämpft und die haben eigentlich diese Wirren des Umsturzes genutzt,
Kristin Helberg: um erstmal die kurdischen Feinde in Anführungszeichen jetzt im Osten anzugreifen.
Kristin Helberg: Und deswegen ist die Lage im Nordosten ja auch noch sehr wenig stabil und hat
Kristin Helberg: sich auch eher verschlechtert aus Sicht der Menschen vor Ort.
Kristin Helberg: Das war also so ein bisschen die zweite Front, die da aufgemacht wurde,
Kristin Helberg: die man gar nicht so richtig beobachtet hat, weil ja alle damit beschäftigt
Kristin Helberg: waren, dass jetzt das Regime in Damascus gestürzt wird.
Pauline Jäckels: Du hast jetzt gesagt, das ist im Interesse Erdogans.
Pauline Jäckels: Kannst du erklären, warum das im Interesse Erdogans ist für Leute,
Pauline Jäckels: die sich vielleicht auch einfach gar nicht so auskennen mit diesem Kontext?
Pauline Jäckels: Zum einen, warum ist es Interesse, gegen die kurdische Selbstverwaltung vorzugehen
Pauline Jäckels: und warum ist es im Interesse, jemanden in Damaskus zu haben, der ihm nahesteht?
Pauline Jäckels: Also was erhofft sich die Türkei davon konkret?
Kristin Helberg: Die Türkei hatte in den letzten Jahren immer mehrere wichtige Interessen mit Bezug auf Syrien.
Kristin Helberg: Einerseits möchte man syrische Geflüchtete zurückschicken.
Kristin Helberg: Das heißt, wir haben einen ganz stark zugenommenen Nationalismus,
Kristin Helberg: auch sehr viel Rassismus in der Türkei gesehen in den letzten Jahren,
Kristin Helberg: weil die syrischen Geflüchteten, das waren ja mal mehr als dreieinhalb Millionen,
Kristin Helberg: die größte Gruppe der syrischen Geflüchteten im Ausland, weil die zu Sündenböcken
Kristin Helberg: gemacht wurden für die wirtschaftlich schlechte Lage in der Türkei.
Kristin Helberg: Das heißt, alle Kandidaten, Präsidentschaftskandidaten im letzten Wahlkampf
Kristin Helberg: haben sich überboten darin, wie viele Syrer man nun ganz schnell nach Hause schicken wollte.
Kristin Helberg: So ein bisschen so ähnlich wie hier, nur nochmal verstärkt. Das heißt,
Kristin Helberg: großes Ziel, Syrer zurückzuschicken und das erfüllt sich jetzt ja auch,
Kristin Helberg: weil wenn es stabiler wird in Syrien, können diese Menschen auch freiwillig zurückkehren.
Kristin Helberg: Also das war auf jeden Fall ein Interesse, was sich jetzt erfüllt hat.
Kristin Helberg: Erdogan hat dann ja vor allem mit militärischen Mitteln in den letzten Jahren
Kristin Helberg: mit drei Militärinterventionen Gebiete in Nordsyrien besetzt, türkisch besetzt,
Kristin Helberg: um klarzumachen, wir wollen hier eben keine weitere Ausbreitung dieses kurdischen Autonomiegebietes.
Kristin Helberg: Das man als Terrorstaat bezeichnet, weil es eben Verbindungen gibt zu PKK.
Kristin Helberg: Jetzt hat ja Abdallah Öcalan, der Gründer der PKK, der seit vielen Jahren im Gefängnis sitzt,
Kristin Helberg: Kürzlich also zu Beginn des Jahres dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen.
Kristin Helberg: Die PKK hat es ja auch erklärt, dass man Waffen niederlegen wollte.
Kristin Helberg: Da finden Gespräche statt innerhalb der Türkei.
Kristin Helberg: Also in dem Moment, in dem die türkische Regierung ihr innertürkisches Kurdenproblem
Kristin Helberg: in Anführungszeichen löst und sich mit der PKK einigt, wird sich das auch positiv
Kristin Helberg: auswirken auf den Nordosten Syriens, weil es diese Verbindung offiziell schon gibt.
Kristin Helberg: Und was Erdogan eben verhindern möchte, dass dort ein erfolgreiches,
Kristin Helberg: kurdisch dominiertes Autonomiegebiet entsteht, was eben dann auch die Kurden
Kristin Helberg: im eigenen Land irgendwie motivieren könnte, da solche Forderungen zu stellen.
Pauline Jäckels: Welche Ideologie steht denn seiner sehr nationalistischen Ideologie gegenüber
Pauline Jäckels: auf der kurdischen Seite?
Pauline Jäckels: Natürlich müssen wir ja jetzt, darf man das nicht verallgemeinern,
Pauline Jäckels: natürlich nicht alle Kurden verfolgen die gleiche Ideologie,
Pauline Jäckels: aber welche Ideologie sieht Erdogan quasi dort gegenüber?
Kristin Helberg: Also im Nordosten Syriens sehen wir ja, dass diese Vorstellung oder dieses Modell
Kristin Helberg: vom sogenannten demokratischen Konföderalismus versucht wird,
Kristin Helberg: in die Realität umzusetzen.
Kristin Helberg: Das ist eigentlich eine Idee von Öcalan gewesen, der schon vor vielen Jahren
Kristin Helberg: gesagt hat, in seinem Gefängnis in der Türkei, also Nationalismus ist überhaupt
Kristin Helberg: nicht die Lösung, weder für diese Region, sondern insgesamt.
Kristin Helberg: Kurdinnen und Kurden sollten nicht länger einen eigenen Staat anstreben, eine Nation,
Kristin Helberg: sondern sollten eigentlich mit dieser Form des Konföderalismus,
Kristin Helberg: demokratischer Konföderalismus, sollten eigentlich es ermöglichen,
Kristin Helberg: in bestehenden Grenzen mehr Autonomie und mehr Selbstbestimmung zu bekommen.
Kristin Helberg: Das ist seine Vision und es hatte noch nie jemand versucht, mal umzusetzen.
Kristin Helberg: Damit gehen so verschiedene Dinge einher, eben Dezentralisierung und mehr Einflussmöglichkeiten
Kristin Helberg: für lokale Komitees zum Beispiel, eine Doppelspitze, also Frauen und Männer
Kristin Helberg: in politischen Ämtern und die Tatsache, dass die ganze Gesellschaft mit einbezogen wird.
Kristin Helberg: Also alle Minderheiten, ob konfessionelle Minderheiten, religiöse Gruppen,
Kristin Helberg: aber eben auch ethnische Minderheiten, verschiedene Menschen,
Kristin Helberg: also mit unterschiedlichem Hintergrund.
Kristin Helberg: Und das wurde jetzt eigentlich in Nordostsyrien.
Kristin Helberg: Dem sogenannten Rojava, versucht umzusetzen. Das hat die PID,
Kristin Helberg: also die Partei der Demokratischen Union, dann versucht, in die Realität umzusetzen.
Kristin Helberg: Das klingt alles sehr schön und das ist natürlich so nicht vollständig gelungen.
Kristin Helberg: Ich denke nicht, dass das wirklich ein Modell ist jetzt für die ganze Region,
Kristin Helberg: aber es ist natürlich sehr viel besser als das, was sonst in Syrien vorzufinden ist.
Kristin Helberg: Und es ist eben wegweisend in verschiedener Hinsicht, vor allem was die Inklusivität angeht.
Kristin Helberg: Problematisch daran ist, dass es noch immer geprägt ist von diesem einen Parteiendenken.
Kristin Helberg: Also es gibt eben die eine Partei, die auch politische Gegner verfolgt und unterdrückt.
Kristin Helberg: Also insofern ist es nicht vollständig demokratisch.
Kristin Helberg: Es ist nicht wirklich auch politisch inklusiv.
Kristin Helberg: Aber es ist natürlich für die Gesellschaft und für das Gefühl von auch Kritik
Kristin Helberg: äußern können, das ist auf jeden Fall ein Fortschritt natürlich gewesen im Vergleich
Kristin Helberg: zur Situation, vor allem unter dem Assad-Regime.
Pauline Jäckels: Jetzt haben wir schon sehr viel über die Türkei gesprochen. und die kurdischen Gebiete,
Kristin Helberg: Was dort die Interessenlage ist.
Pauline Jäckels: Warum haben denn die USA und auch ihr enger Verbündeter Israel als Schara nicht
Pauline Jäckels: nur gewähren lassen nach seinem Sturz, sondern auch die Wirtschaftssanktionen
Pauline Jäckels: gegen Syrien aufgehoben, also die USA?
Pauline Jäckels: Schließlich stand ja als Schara bis vor kurzem noch auf der US-Terrorliste.
Pauline Jäckels: Warum macht man das? Warum würdigt man ihn jetzt?
Pauline Jäckels: Welche Interessen verfolgt denn die USA damit, dass sie ihn jetzt da gewähren
Pauline Jäckels: lassen? und auch Israel vielleicht als Alliierte der USA und natürlich Nachbar Syriens.
Kristin Helberg: Also Israel lässt ihn ja nicht gewähren, sondern greift ja diese neuen Machthaber an.
Kristin Helberg: Israel hat ja ab Tag 1 weiter bombardiert.
Kristin Helberg: Israel bombardiert Syrien schon seit 2017. Damals die iranischen Revolutionsgarden
Kristin Helberg: und die Hezbollah-Vertreter, die sind nun alle verjagt worden.
Kristin Helberg: Es gibt eigentlich gar keinen Grund mehr, aus israelischer Sicht Syrien anzugreifen,
Kristin Helberg: weil es keine Bedrohungslage gab nach dem Sturz.
Pauline Jäckels: Genau, aber Israel hat ihn nicht getötet, wozu Israel ja durchaus in der Lage gewesen wäre.
Kristin Helberg: Das ist richtig. Ich glaube, erstens waren alle so überrascht davon und haben
Kristin Helberg: das erstmal auch mit einiger Faszination verfolgt, was da in Damaskus passiert.
Kristin Helberg: Und was Ahmad al-Shadda wirklich gelungen ist in diesen letzten Monaten,
Kristin Helberg: ist das Ausland davon zu überzeugen, dass Syrien Unterstützung braucht und dass
Kristin Helberg: er derjenige ist, der jetzt diesen Übergang irgendwie anleiten kann.
Kristin Helberg: Und das kann man jetzt gut finden oder nicht, aber ich glaube,
Kristin Helberg: die Vision der meisten ausländischen Mächte, vor allem auch der Bundesregierung
Kristin Helberg: und Deutschlands, ist, dass dieser Übergang irgendwie geschützt werden muss.
Kristin Helberg: Wir dürfen jetzt nicht diesen Übergang zerstören, weil die Alternative ist einfach
Kristin Helberg: nur noch mehr Gewalt und weitere Destabilisierung.
Kristin Helberg: Und nach dem, was Syrien durchgemacht hat, 14 Jahre lang, ein so furchtbarer
Kristin Helberg: Krieg mit ausländischer Unterstützung auf einem Gewaltniveau,
Kristin Helberg: das so viel Zerstörung, so viel Schmerz angerichtet hat, das will man auf jeden Fall überwinden.
Kristin Helberg: Man möchte nicht zurückkehren zu internen Kämpfen.
Kristin Helberg: Das heißt, wir brauchen einen Übergang und Ahmedeshada ist die Person,
Kristin Helberg: die dieses Land jetzt in den nächsten Jahren vielleicht stabilisieren kann.
Kristin Helberg: Und es gibt keine Alternative zu ihm.
Kristin Helberg: Wo ist der andere große demokratische Führer, der jetzt bereitstünde,
Kristin Helberg: das an seiner Stelle zu machen, der dann auch noch in der Lage ist,
Kristin Helberg: die radikalen Elemente, die ja auch Teil dieses Aufstands waren,
Kristin Helberg: auch noch irgendwie einzubinden oder zu kontrollieren.
Kristin Helberg: Das gelingt natürlich auch gerade überhaupt nicht optimal.
Kristin Helberg: Aber wer ist die Alternative? Deswegen sagen sowohl die USA,
Kristin Helberg: also bei den USA ist es nochmal anders, weil Trump sucht halt einfach nach great guy here and there.
Kristin Helberg: Also er hat dann ihn getroffen, Mensch, ja, he's a handsome guy und good leader,
Kristin Helberg: bla bla, und dann Handshake hier und dann Schulterklopfen da.
Kristin Helberg: So macht Donald Trump Außenpolitik. Also bei dem geht es ja sehr viel auch um so persönliche.
Kristin Helberg: Aber jetzt sagen wir mal europäische Staaten, die ja auch sehr schnell in Damaskus
Kristin Helberg: waren und geguckt haben, sich getroffen haben, sich ein Bild machen wollten,
Kristin Helberg: weil es Nachbarschaft ist, weil auch gerade Deutschland ein Rieseninteresse
Kristin Helberg: daran hat, dass Syrien stabil wird mit mehr als eine Million Syrerinnen und
Kristin Helberg: Syrer, die in Deutschland leben. Die Frage, ob die zurückkehren können.
Kristin Helberg: Also Deutschland ist einfach sehr betroffen von diesem Krieg die ganze Zeit,
Kristin Helberg: weil es die Syrerinnen und Syrer in Deutschland verfolgen und für sie sich persönliche
Kristin Helberg: Fragen stellen, eben ob sie hierbleiben, ob sie zurückkehren,
Kristin Helberg: ob sie sich dort engagieren wollen.
Kristin Helberg: Und deswegen ist Deutschland vor allem daran interessiert, dass der Übergang irgendwie weitergeht.
Kristin Helberg: Also den Übergang zu schützen und nicht in Frage zu stellen.
Kristin Helberg: Und das bedeutet, dass man dem Ganzen erstmal eine Chance gibt und das ist im Grunde passiert.
Pauline Jäckels: Wie du sagst, man hat ja auch eigentlich gar keine andere Möglichkeit,
Pauline Jäckels: als dem eine Chance zu geben, richtig?
Pauline Jäckels: Und dann frage ich mich aber, was für eine Rolle spielt Syrien als Wirtschaftsstandort?
Kristin Helberg: Also Syrien ist natürlich geostrategisch extrem wichtig, weil es mitten in der Levante liegt.
Kristin Helberg: Also wir haben im Norden die Türkei, im Süden haben wir Jordanien und die Golfstaaten,
Kristin Helberg: dann haben wir ja im Südwesten Israel und Iran noch weiter östlich.
Kristin Helberg: Also geostrategisch sehr wichtig. Für die Türkei ist es zum Beispiel das Tor zur arabischen Welt.
Kristin Helberg: Es ist ein großes Land, es ist durchaus eine besondere, also eine größere Fläche
Kristin Helberg: auch. Es ist auch ein Markt natürlich, der interessant ist.
Kristin Helberg: Und es müssen eben viele Waren und auch Ressourcen durch Syrien durch,
Kristin Helberg: weil es da so mittendrin liegt.
Kristin Helberg: Außerdem war es natürlich auch traditionell mal ein politisch wichtiges Land.
Kristin Helberg: Also unter Hafez al-Assad, dem Vater vor allem, war es ja schon so auch ein
Kristin Helberg: Anführer innerhalb der arabischen Welt, wurde es so gesehen.
Kristin Helberg: Unter Bashar al-Assad nach der Revolution ist ja dann Syrien ausgeschlossen
Kristin Helberg: worden, aus der Arabischen Liga wieder aufgenommen worden, dann im Zuge von
Kristin Helberg: angehender Normalisierung in der Region im Mai 2024.
Kristin Helberg: Also Syrien ist zu bedeuten, als dass man jetzt sagen könnte,
Kristin Helberg: ach, ist uns eigentlich egal, was da passiert.
Kristin Helberg: Die Nachbarländer haben extrem gelitten unter den vielen Geflüchteten und unter
Kristin Helberg: dem Drogenproblem, dem Drogenhandel, vor allem Jordanien, Kriminalität,
Kristin Helberg: Drogenhandel, Saudi-Arabien als Markt, als Abnehmer von diesen Drogen in der eigenen Gesellschaft.
Kristin Helberg: Also die Region hat ein sehr großes Interesse daran, Syrien zu stabilisieren,
Kristin Helberg: aber natürlich nicht unbedingt als Demokratie, weil die Länder der Region sind
Kristin Helberg: ja selbst keine Demokratie.
Kristin Helberg: Man möchte das irgendwie zentralistisch, autoritär, stabil jetzt da den Übergang gestalten.
Kristin Helberg: Und auch da ist Achmede Schadda dann eigentlich ein Partner,
Kristin Helberg: der das irgendwie verkörpern könnte und der die Fäden da jetzt erstmal so in
Kristin Helberg: der Hand haben sollte aus Sicht der Region.
Kristin Helberg: Und die Europäer schauen sich das an und sagen, okay, wir versuchen das irgendwie
Kristin Helberg: so zu begleiten, dass da was Gutes draus wird oder was Besseres für die Menschen.
Kristin Helberg: Und die USA sagen eben ganz klar, okay, he's the guy und er muss es jetzt irgendwie hinkriegen.
Kristin Helberg: Und dann war auch sehr schnell klar, man muss diese Sanktionen,
Kristin Helberg: die Wirtschaftssanktionen aufheben, denn mit diesen Sanktionen wird Syrien nie auf die Beine kommen.
Kristin Helberg: Und das ganz Entscheidende ist ja jetzt erst vor kurzem passiert,
Kristin Helberg: Anfang Oktober, nämlich die Aufhebung der Cäsar-Sanktionen, Cäsar-Sanktions
Kristin Helberg: durch die USA, denn die Cäsar-Sanktionen waren die Sanktionen,
Kristin Helberg: die sich auch gegen Dritte gerichtet haben.
Kristin Helberg: Das heißt, jeder, der mit Syrien Geschäfte machen wollte, auch als Versicherungsunternehmen
Kristin Helberg: oder Investor, der lief Gefahr, von den USA sanktioniert zu werden.
Kristin Helberg: Jetzt sind die CSR-Sanktionen aufgehoben worden und das bedeutet tatsächlich,
Kristin Helberg: dass jetzt mehr Dynamik in Gang kommen sollte, was eben auch Investitionen und solche Dinge angeht.
Pauline Jäckels: Das heißt, wir werden eine Neoliberalisierung dieses Landes unweigerlich sehen.
Kristin Helberg: Das ist ein bisschen die Gefahr, die Wirtschaftsexperten und Wirtschaftswissenschaftler
Kristin Helberg: sehen, die das auch kritisch verfolgen und die sagen,
Kristin Helberg: naja, was wir sehen, es sind für mehr als 20 Milliarden Dollar schon Memoranda
Kristin Helberg: of Understanding unterschrieben worden, also Absichtserklärungen von Investoren,
Kristin Helberg: vor allem im Immobilienbereich,
Kristin Helberg: auch unsere Tourismusprojekte, Luxushotels.
Kristin Helberg: Das ist irgendwie schon erklärt oder geplant,
Kristin Helberg: aber da entstehen ja jetzt keine Sozialwohnungen, sondern eben eher Wohnraum
Kristin Helberg: oder eben auch Infrastruktur, von der auch in erster Linie mal Eliten profitieren.
Kristin Helberg: Das ist so ein bisschen das Problem.
Kristin Helberg: Wie bekommt man also eine Wirtschaftswende hin, von der am Ende eben auch die
Kristin Helberg: Menschen profitieren? Die Kataris haben ja jetzt auch erstmal angebunden,
Kristin Helberg: zum Beispiel die erhöhten Staatsgehälter zu bezahlen.
Kristin Helberg: Das ist natürlich wichtig. Die wurden um 200 Prozent erhöht gerade.
Kristin Helberg: Das sind alles wichtige Signale. Also da profitieren schon auch die Menschen davon.
Kristin Helberg: Und wenn man natürlich auch Straßen und Flughäfen und vor allem auch die Wohngebiete
Kristin Helberg: wieder aufbaut, das ist natürlich wichtig.
Kristin Helberg: Aber dieses wirkliche Engagement, was es braucht wirtschaftlich in der Fläche für die Menschen,
Kristin Helberg: damit sie zurückkehren können, auch die vielen Binnenvertriebenen,
Kristin Helberg: mehr als sieben Millionen, da geht es ja wirklich um Abwasserleitungen,
Kristin Helberg: um Schulen, um Krankenhäuser, um Straßen und diese ganzen Basics.
Kristin Helberg: Und da braucht es wahrscheinlich andere Art von Investoren oder man muss es
Kristin Helberg: eben so zusammenbringen, dass
Kristin Helberg: am Ende das tatsächlich erstmal der breiten Bevölkerung auch zugutekommt.
Kristin Helberg: Und die Gefahr ist so ein bisschen, dass es eben mit den alten,
Kristin Helberg: auch Eliten stattfindet. Es gibt erste Geschäftsleute, die unter Assad beteiligt
Kristin Helberg: waren als sogenannte Cronies an den Punkten des Regimes und auch die sind jetzt kein Tabu.
Kristin Helberg: Also die können womöglich zurückkehren, weil sie ein Monopol haben in einem bestimmten Bereich.
Kristin Helberg: Und da sagt sich dann eben Ahmede Schada oder die Neuführung,
Kristin Helberg: ja wir brauchen diese Leute gerade, wir können es uns nicht leisten auf die
Kristin Helberg: zu verzichten, also lass die doch irgendwie wieder mitmischen.
Pauline Jäckels: Ja, vielleicht auch nochmal zum Kontext. Natürlich sind die Menschen in Syrien
Pauline Jäckels: extrem verarmt in den vergangenen Jahren.
Pauline Jäckels: Wegen der abgeschotteten Situation Syriens, teilweise wohl auch wegen den Sanktionen
Pauline Jäckels: und natürlich wegen der Korruption durch das Assad-Regime.
Pauline Jäckels: Und was ich bisher so mitbekommen habe über Freunde und ihre Verwandten in Syrien,
Pauline Jäckels: dass sich eben viele Leute am Ende einfach erhoffen, dass sich diese Wirtschaftssituation
Pauline Jäckels: bessert, dass diese Armut, die sie erleben,
Pauline Jäckels: dass die irgendwie jetzt nochmal besser wird und dass Fragen,
Pauline Jäckels: wie demokratisch ist jetzt dieses Land, für sie gerade persönlich gar nicht im Vordergrund stehen.
Kristin Helberg: Das ist ja auch verständlich. Das Problem ist tatsächlich, dass noch immer mehr
Kristin Helberg: als 90 Prozent der Menschen in Armut leben.
Kristin Helberg: Ganz viele Leute, 16 Millionen, sind abhängig von humanitärer Hilfe.
Kristin Helberg: Das heißt, die wirtschaftliche Lage hat sich ja noch gar nicht wirklich verbessert.
Kristin Helberg: Auch wenn hier und da jetzt ein bisschen mehr Strom fließt zum Beispiel.
Kristin Helberg: Das hat sich zum Teil verbessert.
Kristin Helberg: Aber ein Drittel der Gesundheitszentren zum Beispiel und fast ein Drittel aller
Kristin Helberg: Wohneinheiten sind entweder zerstört oder schwer beschädigt.
Kristin Helberg: Das heißt, diese sieben Millionen Binnenvertriebenen, die jetzt ja zum Teil
Kristin Helberg: zurückkehren wollen in ihre Heimatorte, stehen eben vor ihren eigenen zerstörten Häusern.
Kristin Helberg: Die nehmen im Übrigen ihre Zelte mit aus den Flüchtlingslagern im Norden und
Kristin Helberg: stellen erstmal ein Zelt neben ihr kaputtes Wohnhaus, um überhaupt dort wieder anzufangen.
Kristin Helberg: Mehr als die Hälfte der Wasseraufbereitungsanlagen, der Abwassersysteme sind
Kristin Helberg: beschädigt oder nicht funktionsfähig.
Kristin Helberg: Das heißt, 14 Millionen Menschen sind ohne sauberes Wasser gerade,
Kristin Helberg: also sanitäre Einrichtungen, Hygiene und sowas. Was die Energieproduktion angeht,
Kristin Helberg: die ist auch um 80 Prozent zurückgegangen.
Kristin Helberg: Das sind jetzt alles Zahlen von UNDP, also der Entwicklungsagentur der Vereinten Nationen.
Kristin Helberg: Und die schlimmste oder für mich die wirklich erschreckendste Zahl ist,
Kristin Helberg: dass zwischen 40 und 50 Prozent der Kinder im Schulalter, also zwischen 6 und
Kristin Helberg: 15 Jahren, nicht zur Schule gehen.
Kristin Helberg: Das sieht man auch im Straßenbild, sehr gebettelnde Kinder. Also fast die Hälfte
Kristin Helberg: der Kinder ging gar nicht regelmäßig zur Schule.
Kristin Helberg: Das ist ja die nächste verlorene Generation, die da heranwächst.
Kristin Helberg: Und deswegen sind diese Schwerpunkte mit Bildung und Gesundheit,
Kristin Helberg: die ja auch die Bundesregierung für sich erklärt hat, was man unterstützen möchte
Kristin Helberg: in Syrien, das ist extrem wichtig.
Kristin Helberg: Und da ist eben auch noch, da ist schon ein bisschen was passiert.
Kristin Helberg: Das läuft über die Vereinten Nationen zum jetzigen Zeitpunkt weiter.
Kristin Helberg: Aber da muss im Grunde ganz viel noch erstmal aufgebaut werden,
Kristin Helberg: damit die Leute überhaupt wieder das Gefühl haben, sie haben einen Alltag und
Kristin Helberg: können auch selber finanzieren, ne?
Kristin Helberg: Also ein Staatsbediensteter verdient zwischen 33 und 40 Dollar,
Kristin Helberg: aber eine Familie braucht monatlich ungefähr 200 Dollar.
Kristin Helberg: Also es ist völlig unrealistisch, davon zu leben. Man überlebt dank der humanitären
Kristin Helberg: Hilfsgüter und man überlebt dank der Überweisungen aus dem Ausland von Verwandten
Kristin Helberg: und Freunden, die eben im Ausland leben und dann Geld überweisen.
Kristin Helberg: Daran hat sich eigentlich noch nicht wirklich was geändert.
Pauline Jäckels: Also nochmal zu der Rolle Deutschlands. Ich glaube, man muss immer skeptisch
Pauline Jäckels: sein, wenn westliche Länder im Nahen Osten sind und sagen, wir setzen uns für
Pauline Jäckels: Demokratie und Menschenrechte ein.
Kristin Helberg: Nee, Deutschland setzt sich ja für Bildung und Gesundheit ein gerade.
Pauline Jäckels: Ja, Bildung und Gesundheit. Das ist ja viel realistischer Form.
Pauline Jäckels: Auch da, glaube ich, in erster Linie geht es um deutsche Interessen.
Pauline Jäckels: Und dann frage ich mich aber, selbst wenn man Bildung, Demokratie,
Pauline Jäckels: Menschenrechte und Gesundheit unterstützen möchte, welche Durchsetzungsfähigkeit
Pauline Jäckels: hat denn Deutschland überhaupt in Syrien?
Pauline Jäckels: Interessiert das als schade, wenn Deutschland sagt, wir konditionieren unsere
Pauline Jäckels: Unterstützung, ist er so auf Deutschland angewiesen, dass das einen Einfluss auf ihn haben kann?
Kristin Helberg: Was Ahmene Schala von Anfang an gemacht hat, ist, seine Beziehungen nach außen
Kristin Helberg: und auch nach innen zu diversifizieren.
Kristin Helberg: Also er spricht mit jedem, er möchte sich nicht abhängig machen von einzelnen Staaten.
Kristin Helberg: Natürlich werden Saudi-Arabien und Katar und Türkei als besondere Partner betrachtet,
Kristin Helberg: die auch großen Einfluss haben und auch eben durchaus die finanziellen Möglichkeiten,
Kristin Helberg: sich dort mehr zu engagieren.
Kristin Helberg: Aber Deutschland ist ein sehr bedeutendes Land aus syrischer Sicht,
Kristin Helberg: auch aus Sicht dieser neuen Führung, wegen der großen Diaspora.
Kristin Helberg: Die Syrerinnen und Syrer in Deutschland werden als ein sehr großes Potenzial
Kristin Helberg: gesehen, weil darunter gut ausgebildete Menschen sind.
Kristin Helberg: Da sind einfach sehr viele Leute, Ärzte, Ingenieure, aber eben auch IT, da sind ja auch Anwälte.
Kristin Helberg: Wir haben eine Diaspora, die ja sehr gut organisiert ist, die sehr aktiv ist.
Kristin Helberg: Kein Konflikt in der Geschichte der Menschheit, behaupte ich,
Kristin Helberg: hat jemals eine so aktive NGO-Szene hervorgebracht wie der syrische Konflikt
Kristin Helberg: in den USA, in Europa und eben auch in Deutschland, sehr viele Vereine.
Kristin Helberg: Wir haben eigentlich für jedes Problem in Syrien syrische Expertinnen und Experten.
Kristin Helberg: Große Frage ist, wie kriege ich diese Expertise jetzt nach Damaskus und in dieses
Kristin Helberg: neue Syrien, sodass sie dort gehört werden.
Pauline Jäckels: Man muss vielleicht auch kurz mal sagen, also das ist nicht,
Pauline Jäckels: dass die nach Deutschland gekommen sind und hier haben sie diese ganze Expertise
Pauline Jäckels: bekommen, sondern es sind Leute, die in Syrien schon extrem aktiv waren,
Pauline Jäckels: gute Ausbildung hatten, gutes Studium hatten und dann nach Deutschland gekommen
Pauline Jäckels: sind und das hier natürlich auch eingebracht haben.
Kristin Helberg: Genau, das sind ganz verschiedene Gruppen. Also traditionell,
Kristin Helberg: also die alte Diaspora, die vor 2011 ja schon in Deutschland war,
Kristin Helberg: das sind diese berühmten Ärzte und Ingenieure tatsächlich.
Kristin Helberg: Und wer jetzt gekommen ist, das war natürlich eine ganz große Mischung von Syrerinnen
Kristin Helberg: und Syrern, die geflüchtet sind und nach Deutschland gekommen sind.
Kristin Helberg: Auch sehr viele junge Leute, die jetzt einfach hier Schule abgeschlossen haben,
Kristin Helberg: was studiert haben und jetzt bereit stehen und auch sehr motiviert sind,
Kristin Helberg: um etwas zu tun für ihr Land. Aber,
Kristin Helberg: Deutschland ist insofern auch aus Sicht dieser neuen Führung bedeutend und nicht
Kristin Helberg: umsonst ist hinter einer neuen Regierung,
Kristin Helberg: die die Übergangspräsidenten Erschadada ernannt hat, ist sowohl der Bildungsminister
Kristin Helberg: als auch der Gesundheitsminister haben ja in Deutschland gelebt und zum Teil
Kristin Helberg: studiert oder gearbeitet.
Kristin Helberg: Also beide sprechen Deutsch. Fand ich sehr bezeichnend, weil das natürlich genau
Kristin Helberg: widerspiegelt, dass man in den beiden Bereichen sich Unterstützung erhofft.
Kristin Helberg: Deutschland wird nicht gesehen als ein Rieseninvestor, um jetzt, was weiß ich.
Kristin Helberg: Da die Staatsgehälter zu finanzieren, aber eben in diesen nachhaltigen Fragen
Kristin Helberg: von Gesundheitssystemen vor allem, weil es so viele syrische Ärzte gibt in Deutschland
Kristin Helberg: und eben auch Bildungssystemen, Aufbau von Schulen, da wird Deutschland sehr
Kristin Helberg: viel Kompetenz zugeschrieben.
Kristin Helberg: Und das sind entscheidende Bereiche.
Kristin Helberg: Und da würde ich jetzt, ich bin ja sehr kritisch mit Deutschland-Ostpolitik,
Kristin Helberg: wie du weißt, aber in dem Bereich, also was diese beiden Prioritäten angeht,
Kristin Helberg: finde ich tatsächlich, dass Deutschland das gut ausgewählt hat und dass es schon
Kristin Helberg: in erster Linie um eine Stabilisierung von Syrien geht und darum geht,
Kristin Helberg: dass die Kinder in Syrien wieder zur Schule gehen können.
Kristin Helberg: Dass man da mittelfristig davon profitiert, weil syrische Geflüchtete nach Hause gehen, okay.
Kristin Helberg: Aber der erste Impuls ist, glaube ich, schon auch da im BMZ,
Kristin Helberg: zumindest im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und auch bei
Kristin Helberg: der GIZ, also der implementierenden Organisation nachher, der Gesellschaft für
Kristin Helberg: internationale Zusammenarbeit.
Kristin Helberg: Die beiden wollen ganz klar dieses Land stabilisieren und den Menschen vor Ort helfen.
Pauline Jäckels: Ich würde es nur umgekehrt sehen. Ich glaube, sie wollen den Menschen helfen,
Pauline Jäckels: um zu erreichen, dass sich das Land stabilisiert, um eben dafür zu sorgen,
Pauline Jäckels: dass nicht mehr so viele Geflüchtete kommen.
Kristin Helberg: Natürlich, das meinte ich. In der Migrationsfrage deckt sich das dann mit deutschen Interessen.
Kristin Helberg: Das auf jeden Fall. Aber das muss jetzt nicht schlecht sein für die Menschen
Kristin Helberg: in Syrien sozusagen, dieses Angebrochen.
Pauline Jäckels: Ja, da sind wir uns wahrscheinlich einig.
Kristin Helberg: Aber zum jetzigen Zeitpunkt macht es die Bundesregierung nicht mit der neuen
Kristin Helberg: Regierung, sondern tatsächlich noch über die UN und über nichtstaatliche Organisationen.
Kristin Helberg: Und da vielleicht, um das nochmal abzuschließen, ist es schon wichtig,
Kristin Helberg: dass die Bundesregierung auch
Kristin Helberg: vor Ort zum Beispiel NGOs unterstützt oder Zivilgesellschaft unterstützt,
Kristin Helberg: die nach wie vor sich ihre Freiräume erhält, also so ein bisschen zurückpusht,
Kristin Helberg: wenn diese Übergangsregierung versucht, jetzt solche Freiräume einzuschränken.
Pauline Jäckels: Das ist ein wunderbares Stichwort. Und für den Übergang zu dem Thema,
Pauline Jäckels: über das wir unbedingt noch sprechen müssen.
Pauline Jäckels: Al-Challa hat zum einen den Schutz der religiösen Minderheitsgruppen versprochen
Pauline Jäckels: und auf der anderen Seite auch einen Übergang zu einem demokratischen System.
Pauline Jäckels: Ein Jahr später würdest du sagen, er hat diese Versprechen eingehalten.
Pauline Jäckels: Wie schätzt du diese Frage ein? Zum einen des Schutzes der Minderheiten und
Pauline Jäckels: zum anderen eben der Demokratiefrage in Syrien.
Kristin Helberg: Zunächst mal muss man feststellen, dass sich nicht alle Menschen in Syrien jetzt
Kristin Helberg: sicher fühlen oder sicherer als vorher fühlen.
Kristin Helberg: Insbesondere Alawiten, Drusen und auch Kurden und mit Abstrichen auch manche
Kristin Helberg: Christen fühlen sich nicht sicher in Syrien gerade und haben eben auch aufgrund
Kristin Helberg: der Massaker und dieser Ereignisse,
Kristin Helberg: dieser Gewalteskalation sowohl an der Küste im März diesen Jahres,
Kristin Helberg: an alawidischen Zivilisten unter anderem und an der drusischen Bevölkerung in
Kristin Helberg: der Provinz Veda im Juli dieses Jahres.
Kristin Helberg: Seitdem haben viele Mitglieder dieser Gruppen auch die Hoffnung verloren,
Kristin Helberg: dass mit dieser Übergangsregierung, mit Ahmed Shada, irgendwie ein besseres
Kristin Helberg: System entsteht oder ein sicheres oder irgendwie auch ein demokratisches System.
Kristin Helberg: Das heißt, das anfängliche Misstrauen ist eigentlich umgeschlagen in eine ganz offene Ablehnung.
Kristin Helberg: Was richtig problematisch ist, weil das Land ja immer noch nicht geeint ist.
Kristin Helberg: Und wenn wir in den Süden schauen, die Lage in Sweda sich halt dramatisch verschlechtert hat.
Kristin Helberg: Also sowohl für die Menschen in der Provinz Sweda, weil dort auch immer noch
Kristin Helberg: Gebiete nicht gut humanitär versorgt sind, aber eben auch, weil man gar nicht
Kristin Helberg: mehr die Hoffnung hat, dass mit Damaskus zusammen da irgendwas Gutes entstehen kann.
Kristin Helberg: Und das ist natürlich problematisch vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der
Kristin Helberg: Syrerinnen und Syrern nach wie vor denkt, dass das irgendwie besser wird und
Kristin Helberg: dass es auch keine Alternative gibt und dass man diesen Weg eigentlich jetzt
Kristin Helberg: erstmal weiter beschreiten muss.
Kristin Helberg: Ahmed Al-Shara hat formell die Dinge, die er angekündigt hat, immer eingehalten.
Kristin Helberg: Also er hat zum Beispiel eine nationale Dialogkonferenz versprochen,
Kristin Helberg: die hat er dann abgehalten, aber die ist eben total frustrierend verlaufen,
Kristin Helberg: weil sie viel zu kurz war, viel zu kurzfristig, weil gar nicht alle eingebunden waren.
Kristin Helberg: Also ja, er hat die Konferenz organisiert, aber nein, sie hat nicht das erfüllt, was man sich erwartet.
Kristin Helberg: Er hat eine Verfassungserklärung abgegeben, eine neue Verfassung.
Kristin Helberg: Da stehen auch viele richtige Dinge drin, Gewaltenteilung, Menschenrechte,
Kristin Helberg: aber sie bündelt die Macht ganz klar an Präsidenten.
Kristin Helberg: Also sehr viel Kritik an dieser Übergangsverfassung, vor allem aus zwei Punkten,
Kristin Helberg: nämlich man kann immer noch den Notstand erklären.
Kristin Helberg: State of Emergency, das war das, womit Assad über viele Jahrzehnte geherrscht hat.
Kristin Helberg: Und es ist noch immer kein neues Parteiengesetz erlassen worden.
Kristin Helberg: Und das ist ein wirklich wichtiger Kritikpunkt, denn ohne ein Parteiengesetz
Kristin Helberg: können Menschen in Syrien sich ja auch gar nicht politisch organisieren für
Kristin Helberg: zukünftige dann demokratische Wahlen.
Kristin Helberg: Also wenn man es ernst meint, mit einem Übergang zur Demokratie,
Kristin Helberg: muss ich jetzt spätestens die Möglichkeit schaffen, sich politisch zu organisieren.
Kristin Helberg: Und dazu gehört ein Parteiengesetz. Das ist also auch ein Kritikpunkt.
Kristin Helberg: Dann kommt hinzu, er hat gesagt, okay, wir brauchen hier ein Parlament,
Kristin Helberg: wir brauchen eine Legislative, weil er auch nicht per Dekret regieren möchte.
Kristin Helberg: Das ist ja erstmal lobenswert.
Kristin Helberg: Dieser Prozess war natürlich nicht demokratisch, hat aber auch niemand behauptet,
Kristin Helberg: dass es demokratische Wahlen wären.
Kristin Helberg: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man keine allgemeinen gleichen Wahlen abhalten,
Kristin Helberg: weil man gar nicht weiß, wer ist in Syrien.
Kristin Helberg: Es gibt kein Wahlregister. Wie gesagt, die Hälfte der Bevölkerung ist vertrieben
Kristin Helberg: im Ausland, innerhalb des Landes.
Kristin Helberg: Man kann keine demokratischen Wahlen abhalten. Das wird sich erst zeigen in
Kristin Helberg: vier bis fünf Jahren, drei bis fünf Jahren, ob er bereit ist,
Kristin Helberg: sich dann wirklich in demokratischen Wahlen zu stellen,
Kristin Helberg: auch abgewählt zu werden und eben auch wirklich anderen Parteien die Chance
Kristin Helberg: zu geben, sich da zu engagieren und sich zu organisieren.
Pauline Jäckels: Und ich hatte auch vor einem Jahr den Impuls zu sagen, okay,
Pauline Jäckels: man muss sich das jetzt erstmal anschauen.
Pauline Jäckels: Ich würde sagen, nach einem Jahr, wo ich mir das angeschaut habe,
Pauline Jäckels: dieser Mann ist nicht interessiert daran, irgendwann diese Macht abzugeben,
Pauline Jäckels: sondern was er macht, ist seine Macht zu zementieren, wo er kann.
Pauline Jäckels: Und indem er zum Beispiel seine Leute in die Medienhäuser setzt,
Pauline Jäckels: die es gibt und so weiter.
Pauline Jäckels: Das sind für mich alles machtzementierende und eher nicht-demokratische Maßnahmen.
Pauline Jäckels: Wie siehst du das?
Kristin Helberg: Absolut. Zum jetzigen Zeitpunkt konzentriert sich die Macht bei seiner Person.
Kristin Helberg: Und das ist eine autoritäre Vision und eine zentralistische Vision. Das ist das Problem.
Kristin Helberg: Beides ist problematisch. Also ich sehe weniger...
Kristin Helberg: Die Gefahr einer Theokratie, das ist ja auch nicht, dass viele denken,
Kristin Helberg: es wird jetzt alles islamistisch und wie bei den Taliban, das sehe ich nicht,
Kristin Helberg: weil dazu weiß er viel zu sehr,
Kristin Helberg: dass er natürlich alle mit einbinden muss im Sinne von, natürlich können die
Kristin Helberg: Christen weiter zum Gottesdienst gehen und natürlich sind die Drusen selbstverständlicher
Kristin Helberg: Teil dieses Landes, auch wenn es dann vielleicht islamischer wird.
Kristin Helberg: Was übrigens auch viele sunnitische Araber in Syrien, die Mehrheit der Menschen
Kristin Helberg: in Syrien sind sunnitische Araber.
Kristin Helberg: Und ich glaube schon, dass viele von denen auch das Gefühl haben, jetzt sind wir mal dran.
Kristin Helberg: Warum nicht? Wir sind hier die Mehrheit. Warum sollte das eigentlich nicht mal
Kristin Helberg: ein bisschen islamischer werden, auch so in den Gesetzen oder so?
Kristin Helberg: Also das ist auch ein Problem, aber seine Vision, und das ist natürlich auch
Kristin Helberg: das Ergebnis von Jahrzehnten von Diktatur, warum sollte jemand auf einmal an
Kristin Helberg: die Macht kommen, in Syrien, aus Syrien heraus, der jetzt ein besonderes Verständnis
Kristin Helberg: von Pluralismus hätte oder von Demokratie.
Kristin Helberg: Also seine Vision ist eine autoritäre und eine zentralistische und das hat damit
Kristin Helberg: zu tun, dass das Land noch nicht stabil ist,
Kristin Helberg: dass es auch noch immer sehr viel Gewalt gibt, dass die Gefahr,
Kristin Helberg: die diese Herrschaft auch infrage gestellt wird und dass er deswegen wahrscheinlich
Kristin Helberg: das Gefühl hat, er muss das alles zusammenhalten und es gelingt eben auch nur mit diesen Mitteln.
Kristin Helberg: Wem kann er vertrauen, wen kann er mit einbinden?
Kristin Helberg: Seine Strategie ist, Einzelpersonen einzubinden, die was können,
Kristin Helberg: die wissen, was sie tun, aber eben nicht Gruppen oder Parteien,
Kristin Helberg: weil das seine Macht vielleicht gefährden könnte.
Kristin Helberg: Und jetzt ist eben die große Frage, sieht er das als eine Übergangslösung,
Kristin Helberg: so nach dem Motto, Leute, ich muss das hier zusammenhalten, diesen Laden,
Kristin Helberg: wir müssen doch erstmal aufbauen und das muss doch alles erstmal stabil werden
Kristin Helberg: Und dann können wir irgendwie auch loslassen und mehr Mitbestimmung erlauben.
Kristin Helberg: Das ist eben die Frage, glaube ich das oder glaube ich das nicht?
Kristin Helberg: Und das werden wir wirklich erst wissen in ein paar Jahren. Ich glaube,
Kristin Helberg: zum jetzigen Zeitpunkt ist es nachvollziehbar, dass er so denkt und so viel
Kristin Helberg: macht bei sich konzentriert.
Kristin Helberg: Und die ganzen zivilgesellschaftlichen Kräfte oder auch oppositionelle Kräfte
Kristin Helberg: stehen vor der großen Frage, mache ich mit, gehe ich rein und versuche dieses
Kristin Helberg: System von innen mitzugestalten, um es in meinem Sinne mitzubestimmen?
Kristin Helberg: Oder lehne ich das ab und sage, nee, ich habe kein Vertrauen auf diesen Mann,
Kristin Helberg: der will hier auf jeden Fall eine Diktatur wieder errichten.
Kristin Helberg: Ich bin dagegen und was mache ich dann?
Kristin Helberg: Bekämpfe ich das jetzt wieder? Verlasse ich das Land? Was mache ich?
Kristin Helberg: Und ich glaube, wenn die Syrerinnen und Syrer sich in einem Punkt einig sind,
Kristin Helberg: dann wollen sie auf keinen Fall zurück zu Krieg und Kampf und was auch immer.
Pauline Jäckels: Oder einer Diktatur wie Assad.
Kristin Helberg: Ja, das ist auch richtig. Aber zum jetzigen Zeitpunkt geht es darum,
Kristin Helberg: dass es nicht weiter eskaliert, dass die Gewalt nicht eskaliert.
Kristin Helberg: Es gibt wahnsinnig viel ideologisierten Hass in diesem Land,
Kristin Helberg: auch in den Reihen der nationalen Sicherheitskräfte. Es gibt aber auch noch
Kristin Helberg: Assad-Überbleibsel im Untergrund, die diese neuen Kräfte infrage stellen und
Kristin Helberg: an der Küste angegriffen haben.
Kristin Helberg: Das war der Ursprung dieses Gewaltausbruchs, das dann gemündet hat in Massakern
Kristin Helberg: auch an alabitischen Zivilisten.
Kristin Helberg: Das Ganze ist jetzt analysiert. Wir haben diverse Berichte darüber, was passiert ist.
Kristin Helberg: Das heißt, es ist ziemlich gut analysiert worden. Das Problem,
Kristin Helberg: was ich sehe beim Thema innere Sicherheit abschließend, diese Übergangsregierung
Kristin Helberg: lernt nicht aus ihren Fehlern.
Kristin Helberg: Was an der Küste passiert ist, hätte eben dazu führen müssen,
Kristin Helberg: dass man es in Sweda ganz anders macht und eben nicht hingeht und dann wieder
Kristin Helberg: diesen konfessionellen Hass auslebt mit Truppen,
Kristin Helberg: nationale Sicherheitskräfte, die dort dahin geschickt wurden,
Kristin Helberg: um angeblich zu deeskalieren.
Kristin Helberg: Und was passiert ist, ist, dass am Ende Drusen dafür getötet wurden, dass sie Drusen sind.
Kristin Helberg: Also man lernt nicht daraus. Und genau das hat sich gerade nochmal bei den Wahlen in Aleppo wiederholt.
Kristin Helberg: Da gab es diese kurdischen Stadtviertel, Aschafieh, Sheikh Maksud.
Kristin Helberg: Auch dort wurde sofort die Armee dann hingeschickt. Man hat wieder eskaliert,
Kristin Helberg: statt dass man Polizeikräfte schickt. Und das ist natürlich auch nochmal der Punkt.
Kristin Helberg: Woher sollen die kommen? Woher sollen Syrien jetzt Polizeikräfte haben,
Kristin Helberg: die wissen, wie man deeskaliert, wie man da reingeht und Konflikte entschärft?
Kristin Helberg: Es fehlt das Personal, es fehlt das Geld dafür, es fehlt das Mindset dafür.
Kristin Helberg: Das entschuldigt nicht, dass es nicht funktioniert und die Hauptverantwortung
Kristin Helberg: kriegt, Achmede Schadda, die neue Führung trägt Verantwortung für solche Massaker,
Kristin Helberg: aber es erklärt, in welcher schwierigen Situation er sich befindet.
Kristin Helberg: Und ich behaupte, es ist nicht in seinem Interesse, wenn Menschen,
Kristin Helberg: Drusen oder Alawiten oder wer auch immer einfach massakriert werden.
Kristin Helberg: Es ist nicht seine Absicht, weil es hilft ihm gar nicht bei der Stabilisierung dieses Landes.
Kristin Helberg: Und er erntet dafür Kritik, er verliert die Unterstützung im Land.
Kristin Helberg: Und am Ende eben dann womöglich auch im Ausland.
Kristin Helberg: Deswegen hat er schon ein großes Interesse daran, diesen Thema innere Sicherheit
Kristin Helberg: unter Kontrolle zu bekommen, in dem Sinne, dass sich die Menschen sicher fühlen, alle Menschen.
Pauline Jäckels: Und trotzdem lässt er es zu, beziehungsweise aus drusischer Sicht ist er dafür verantwortlich.
Kristin Helberg: Er ist verantwortlich, weil er es nicht verhindert, klar. Und das zeigt eben,
Kristin Helberg: was auch 14 Jahre angerichtet haben natürlich.
Kristin Helberg: Also es ist ein total ideologisch aufgeladener, radikalisierter Konflikt gewesen am Ende.
Kristin Helberg: Und solange nicht der Eindruck entsteht, dass es auch eine Form von Gerechtigkeit
Kristin Helberg: geben wird, also Aufarbeitung von Verbrechen, so lange wird immer wieder persönliche
Kristin Helberg: Rache eine Rolle spielen.
Kristin Helberg: Und die Leute nehmen eben dieses Thema in die eigenen Hände und gehen dann her
Kristin Helberg: und entführen irgendwelche Alawiten,
Kristin Helberg: weil sie denken, sie waren dafür verantwortlich, was Assad gemacht hat.
Kristin Helberg: Also diese vielen offenen Rechnungen in der Gesellschaft, dieses Gewaltniveau,
Kristin Helberg: dieser Schmerz, weil fast jede Familie betroffen ist von dem,
Kristin Helberg: was dort passiert ist unter Assad, Das will natürlich irgendwie bearbeitet werden
Kristin Helberg: und muss zu irgendeinem Gefühl von Gerechtigkeit führen.
Kristin Helberg: Sprich, die obersten Verantwortlichen dafür müssen verhaftet werden,
Kristin Helberg: vor Gericht gestellt werden. Das gelingt nur ganz vereinzelt.
Kristin Helberg: Und da es eben nicht gut gelingt zum jetzigen Zeitpunkt, kommt dieser Wunsch
Kristin Helberg: nach Hache bei sehr vielen Menschen nach wie vor.
Kristin Helberg: Und das bringt uns zu dem eigentlich wirklich wichtigen Thema von Syrien, nämlich die.
Kristin Helberg: Die Spaltung der Gesellschaft, die Tatsache, dass die Menschen so wenig voneinander
Kristin Helberg: wissen auch und von dem, was sie in den letzten Jahren erlebt haben,
Kristin Helberg: das fand ich eben ganz krass, als ich durchs Land gefahren bin,
Kristin Helberg: dass Menschen in Damaskus nichts wissen von dem, wie es im Nordosten läuft,
Kristin Helberg: warum es da überhaupt Kurden in Schulen gibt.
Kristin Helberg: Sie auch denken, ich muss einen Gesichtsschleier tragen in Idlib,
Kristin Helberg: weil sie auch noch nie nach Idlib gefahren sind und gar nicht wissen,
Kristin Helberg: wie Leute dort gelebt haben in den letzten Jahren, unter HTS zum Beispiel.
Kristin Helberg: Weil man nicht weiß, wie es in Deresor ist und wie es in Svejda war.
Kristin Helberg: Das heißt, die Leute bleiben, wo sie sind und sind deswegen noch immer total
Kristin Helberg: beeinflusst von den Narrativen dieses Krieges und dieser Diktatur.
Kristin Helberg: Also Propaganda, die sich fortsetzt in den Köpfen und die dann befeuert wird
Kristin Helberg: durch Ereignisse hier und da und sehr viele Fake News. Weil die sozialen Medien
Kristin Helberg: sind im syrischen Fall auch voller Fake News.
Kristin Helberg: Ganz viele Akteure versuchen dort, ihre eigenen Narrative zu setzen und ihre
Kristin Helberg: eigenen Constituencies, ihre Gruppen zu mobilisieren in die eine oder andere Richtung.
Kristin Helberg: Und auch da muss man wahnsinnig vorsichtig sein und muss immer versuchen zu
Kristin Helberg: differenzieren, auszugleichen und das nicht noch befeuern, indem man jetzt ungeprüft
Kristin Helberg: zum Beispiel irgendwelche Informationen weitergibt.
Pauline Jäckels: Ich würde sehr gerne noch zwei Stunden mit dir weitersprechen,
Pauline Jäckels: weil es so interessant ist.
Pauline Jäckels: Wir müssen aber zur letzten Frage kommen.
Pauline Jäckels: Was braucht es, um so eine Einheit, damit ist jetzt natürlich nicht eine Gleichstellung gemeint,
Pauline Jäckels: aber ein vereintes Syrien, um dorthin zu kommen und dann im besten Falle auch
Pauline Jäckels: Mitsprache für alle Gruppen zu erlangen?
Pauline Jäckels: Wie müsste dieser Weg dahin aussehen?
Kristin Helberg: Ganz wichtig ist, dass die Landesteile, die gerade noch nicht zentral kontrolliert
Kristin Helberg: werden von dieser Übergangsregierung, dass mit denen eine gute Vereinbarung
Kristin Helberg: gefunden wird, wie man zusammenwächst.
Kristin Helberg: Dazu gehört, dass das Land dezentral organisiert werden muss.
Kristin Helberg: Die Syrerinnen und Syrer fürchten das Wort Föderalismus. Für viele Syrer bedeutet
Kristin Helberg: das der Anfang vom Ende, weil sie denken, das Land zerfällt,
Kristin Helberg: wenn wir es föderal machen.
Kristin Helberg: Interessanterweise auch Syrer in Deutschland, die jetzt ja gesehen haben,
Kristin Helberg: wie Deutschland föderal organisiert ist, die sagen dann immer,
Kristin Helberg: ja, ja, das ist für Deutschland gut, aber in Syrien funktioniert das gar nicht,
Kristin Helberg: weil sofort wird alles irgendwie auseinanderfallen.
Kristin Helberg: Ich argumentiere ganz klar, wenn Menschen vor Ort mitbestimmen können,
Kristin Helberg: was sie betrifft und die Politik, die sie betrifft, dann fühlen sie sich mehr
Kristin Helberg: zugehörig zu diesem Staat.
Kristin Helberg: Und in Syrien haben wir ja den Fall, dass sehr viele Menschen in den letzten
Kristin Helberg: 15 Jahren Erfahrung gesammelt haben mit Selbstbestimmung. Es gab lokale Räte.
Kristin Helberg: Alle Gebiete, die mal oppositionell kontrolliert waren, haben sich selbst organisiert.
Kristin Helberg: Die Vororte von Damaskus, die Städte Homs, auch Teile von Hamar.
Kristin Helberg: Idlib hatte eine eigene Regierung. Es geht nicht nur um Drusen und es geht nicht
Kristin Helberg: nur um Kurden und es geht nicht um Alariten, sondern es geht darum,
Kristin Helberg: dass sehr viele Menschen, die erlebt haben, wie es ist, wenn sie ihre eigenen
Kristin Helberg: Angelegenheiten regeln können.
Kristin Helberg: Jetzt keine Lust mehr haben, sich das von Damaskus vorschreiben zu lassen.
Kristin Helberg: Selbst die Stämme der Resort wollen das nicht. Und in Idlib wollen sie das übrigens auch nicht.
Kristin Helberg: Deswegen ist das Thema Dezentralisierung ganz, ganz wichtig,
Kristin Helberg: damit die Leute verstehen, es geht eigentlich nur darum, mehr Macht abzugeben
Kristin Helberg: in die Provinzen und zwar in alle Provinzen und in alle Menschen,
Kristin Helberg: die dort leben und nicht nur den Minderheiten irgendwelche Rechte zu geben.
Kristin Helberg: Zweitens ist ganz wichtig, dass wir nicht davon reden, Minderheiten zu schützen,
Kristin Helberg: sondern das sind Teile, das sind Gesellschaftsteile von Syrien,
Kristin Helberg: die wollen mitbestimmen, die wollen nicht geschützt werden.
Kristin Helberg: Ich möchte nicht als Christ einfach nur meinen Gottesdienst abhalten können,
Kristin Helberg: sondern ich möchte Teil dieses Landes werden und mitgestalten.
Kristin Helberg: Das funktioniert gerade gar nicht gut, weil wir in dem neuen Parlament irgendwie,
Kristin Helberg: glaube ich, original Einchristen haben und ganz, ganz wenig Frauen.
Kristin Helberg: Also das ist das große Drama. Wir müssen jetzt abwarten, ob Ahmed Shadda da
Kristin Helberg: noch ein paar Leute benennt, weil er ja 70 Abgeordnete noch selber ernennen
Kristin Helberg: kann und womöglich das ein bisschen ausgleicht.
Kristin Helberg: Stichwort Parteien gesetzt, politische Arbeit ermöglichen, auch selbst wenn
Kristin Helberg: die Muslimbrüder zurückkommen.
Kristin Helberg: Das ist dann auch Teil des Parteienspektrums in Syrien. Das ist dann erstmal so.
Kristin Helberg: Und eben, dass Freiräume, die jetzt existieren, erhalten bleiben.
Kristin Helberg: Und da ist die Rolle des Auslands wichtig.
Kristin Helberg: Ich bin gegen eine Konditionierung, weil ich glaube nicht, dass man mit einer
Kristin Helberg: Konditionierung viel erreicht,
Kristin Helberg: sondern das hat wirklich einen kolonialen Impetus dann auch wieder aufzutreten
Kristin Helberg: und zu sagen, wenn der nicht das und das und das macht und hier ist Frauenquote nicht erfüllt.
Kristin Helberg: Man muss es schon den Leuten selbst überlassen, aber die Kräfte im Land,
Kristin Helberg: die unsere Unterstützung brauchen, weil sie eben nicht Gelder kriegen von sonst
Kristin Helberg: wo, sondern eben angewiesen sind auf Unterstützung aus Europa,
Kristin Helberg: die sollten wir darin bestärken.
Kristin Helberg: Dialogforen abzuhalten, Konferenzen zu organisieren, Kunstausstellungen zu organisieren,
Kristin Helberg: ganz klar freie Meinungsäußerung zu praktizieren, die Dinge zu kritisieren und
Kristin Helberg: sie dann auch davor zu schützen.
Kristin Helberg: Ich war in Syrien im April, als das erste Mal das Munta da von Yatsef,
Kristin Helberg: also dieses Dialogforum, wieder eröffnet wurde nach langer Zeit.
Kristin Helberg: Damals war auch die Ministerin da, Hind Kabawat, die einzige christliche Ministerin und so.
Kristin Helberg: Das war alles ganz schön und es war ein toller Austausch. und sowas muss weiter
Kristin Helberg: stattfinden und dann hilft es vielleicht, wenn mal der deutsche,
Kristin Helberg: Diplomat vor Ort dahin geht oder der Franzose sich da mal reinsetzt,
Kristin Helberg: um solche Dinge zu schützen beziehungsweise klarzumachen, wir verfolgen das
Kristin Helberg: hier, das ist wichtig, dass das stattfindet das ist eine Rolle,
Kristin Helberg: die Deutschland und eben auch andere europäische Staaten spielen sollten.
Pauline Jäckels: Das war ein sehr, sehr interessantes und aufschlussreiches Gespräch Vielen
Kristin Helberg: Dank für die Gelegenheit.
Pauline Jäckels: Vielen Dank, dass du da warst.
Kristin Helberg: Sehr gerne.
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